Sarajevo im Dezember

Hadžijska (Vekil Harčova) Mosque Sarajevo
Hadžijska Moschee
Ferhadija Sarajevo
Ferhadija - die Flaniermeile der Stadt

Am ersten Dezember Wochenende sollte endlich ein langersehnter Wunsch in Erfüllung gehen: Der Besuch der bosnischen Hauptstadt Sarajevo! So sehr begeistern mich die Fotos und Erlebnisberichte rund um das Flair vom Orient, mit der wunderschönen Altstadt, die Landschaft mit ihren steilen Hügeln rund um die Stadt, aber auch die (schmerzvolle) Geschichte. Viele verschreien das als „Schwarzen Tourismus“, sich also Kriegsschauplätze, Konzentrationslager oder ähnliches anzuschauen. Mag sein, dass man das so nennt, aber in mir schlummert schon immer das verlangen sich Sachen „Live“ anzuschauen, für die ich mich sehr interessiere. Ob das jetzt eben ein solcher „schwarzer“ Schauplatz ist oder wunderschöne Dinge wie Mostar, ich möchte sie mit ihrer Umgebung sehen und fühlen. Am heutigen Freitag war es dann also soweit. Pünktlich zum Mittag ging es mit dem Bus von Osijek nach Slavonski Brod. Dort sollte eine Stunde Wartezeit mit einem kühlen Blonden eigentlich fix rumgebracht werden. Doch der Anschlussbus nach Bosnien kam und kam nicht…Der Grund: Stau an der nur wenige hundert Meter entfernten Grenze. Mit etwa drei Stunden Verspätung kam er dann doch noch an, aber natürlich war dann in die entgegengesetzte Richtung das gleiche Schauspiel zu bewundern. Somit dauerte die Reise etwa fünf Stunden länger als geplant und ich kam etwa zwei Uhr Nachts unweit des Hauptbahnhofes in Sarajevo an. Als Hostel wurde mir von meinen neuen polnischen Freunden das „Franz Ferdinand“ mitten in der Altstadt empfohlen und ich kann nur sagen, dass es wirklich das Beste seiner Art ist, in welchem ich bisher schlafen durfte. So ein Städtetrip halt naturgemäß nicht viel Erholung parat und so ging es um 9 Uhr schon zum Treffpunkt für eine „Free Walking Tour“. Dieses Format einer Stadtbesichtigung hat es mir echt angetan. Einheimische zeigen dir gegen ein Trinkgeld die Stadt und haben extrem viele Tipps parat, kann ich nur empfehlen, gerade für Studenten die nicht viele Kröten in der Tasche haben. Die Tour heute sollte sich erst recht lohnen, denn der Tourguide Enes und ich warteten vergebens auf weitere Teilnehmer und somit bekam ich die volle Dröhnung an Informationen. Das war wirklich ein super Einstieg in die Stadt und der Typ war wirklich genial. Wer gleiches plant, bitte kontaktiert mich – ich gebe gern die Kontaktdaten weiter. Nachdem ich das angeblich beste Burek des Balkans gegessen und Ayran aus einem Brunnen getrunken habe, ging es per Fußmarsch zum Stadion nach Grbavica (siehe Bericht Željezničar vs.Celik).

Grbavica Wohnhaus Block Sarajevo
Grbavica Szenerie
Sonnenuntergang Sarajevo Miljacka
Miljacka Fluss

Im Anschluss an das Spiel wanderte ich noch etwas durch den Stadtteil Grbavica und lies die durch Einschusslöcher zum Teil stark in Mitleidenschaft gezogenen Plattenbauten auf mich wirken. Schon erstaunlich wie sich die Bewohner damit arrangiert haben. Grbavica ist Teil der Gemeinde Novo (Neu) Sarajevo und galt vor dem Krieg aufgrund von starker Industrie und Wirtschaft als eine der wohlhabendsten Gemeinden Jugoslawiens. Heute gehört der flächenmäßig größte Teil von Novo Sarajevo zur Republik Srpska. Hier, im südwestlichen Sarajevo, zeigt sich erneut die Absurdität des Krieges und dessen Folgen. Im westlichsten Ausläufer von Novo Sarajevo ist Dobrinja gelegen. Dieser Teil beheimatet auch den internationalen Flughafen. Quer durch diesen Stadtteil zieht sich die Grenze der Föderation und der Republik Srpska. Obwohl die Grenze eigentlich unsichtbar ist, hört genau hier die Straßenbahnlinie aus dem Zentrum von Sarajevo auf. Hinter der „Grenze“ beginnt Istočno Novo(Ost-Neu) Sarajevo. Obwohl die Bebauung von Dobrinja fliesend übergeht, wird hier eine neue Stadt, unter eigener Planung aufgebaut. Ganz egal ob nur 100m weiter bereits die gleichen Geschäfte oder Verwaltungseinheiten vorhanden sind. Entscheidend ist die Fahne, denn hier ist sie Rot-Blau-Weis und in Dobrinja Blau-Gelb für die Föderation. Dass man hier (politisch) an wirklich jeder Stelle versucht den „Feind“ eins reinzuwürgen zeigt sich an einer großen Kreuzung im serbischen Teil der Stadt. Dort wird auf einem Wegweiser die serbische Hochburg Pale und selbst das 300km entfernte Belgrad ausgewiesen. Der Pfeil nach Links zeigt den Weg ins bereits sichtbare Zentrum von Sarajevo an, bleibt aber demonstrativ unbeschriftet. Ursprünglich war der Name von Ostsarajevo „Srpsko Novo Sarajevo“. Dieser wird aber nur noch mündlich überliefert, da aufgrund der Verfassung keine ethnische Trennung im Namen vorhanden sein darf. Um die Absurdität zu steigern, wurde das im (Süd-)Westen von (Alt-)Sarajevo gelegene Stadtgebiet in Ostsarajevo umbenannt, um sich klar vom bösen, imperialistischen Westen abzugrenzen und um zu zeigen, dass man sich dem im Osten befindlichen Belgrad zugehörig fühlt. Dass man durch dieses Stadtgebilde die Entmischung des einst multikulturellen Sarajevo vorantreibt scheint die Stadtplaner nicht zu stören, denn mit aller Macht sollen serbische Auswanderer zurückgeholt und die kleine Minderheit im alten Teil der Stadt angezogen werden. Als Provokation wird es auf bosnischer Seite ebenfalls angesehen, dass die serbischen Raumplaner gerne ein serbisches Siedlungsband von Dobrinja bis zur Nationalisten Hochburg Pale schaffen wollen. Das entspricht nahezu der ehemaligen Frontlinie…Wenn man den Titel des kompliziertesten Regierungssystems der Welt innehat, muss man halt auch immer mal liefern… Der Bogen wurde hier ganz schön überspannt und soll an dieser Stelle zurück nach Grbavica führen: Entlang des Milijacka Flusslaufes ging es wieder in den östlichen Teil der Stadt bis zur Skenderija Halle. Diese wurde ursprünglich 1969 als riesige Sporthalle eröffnet und diente auch bei Olympia 1984 als Veranstaltungsort. Bei näherer Betrachtung bemerkte ich, dass eine Veranstaltung in der Halle war. Beim Betreten stellte sich dann heraus, dass hier ein "Diplomaten Weihnachtsmarkt" stattfand. Viele in Sarajevo vertretene Botschaften boten hier landestypische Köstlichkeiten an. Hatte den Vorteil, dass man sich ganz nach dem Broilers Klassiker „In 80 Tagen um die Welt“, einmal um die Welt trinken und auch durchfuttern konnte. War irgendwie eine coole Sache in der abgeranzten Halle. Später am Abend ging es noch in die Sarajevska Pivara, denn nur dort gibt es das ungefilterte Sarajevsko Pivo. Abgesehen davon ist ein Besuch in der Brauerei sehr zu empfehlen. Ein wirklich schöner Gebäudekomplex mit Prager Bierstuben Flair. Auch hierzu gibt es eine Geschichte zum Krieg. Trotz Belagerung wurde weitergebraut und der Brunnen der Brauerei war über lange Zeit die einzige Trinkwasserquelle für die Bewohner der Stadt. Ein weiterer Grund für einen Besuch ist die Unterstützung für lokale Produkte. Auch auf dem Balkan konnten sich die großen Brauer aus Holland, Dänemark oder Deutschland durchsetzen und verdrängen die einheimischen Produkte, daher kann ich es als Bierliebhaber nicht nachvollziehen, warum man hierherkommt und Guinness oder Carlsberg sich einschenken lasst. Hatte ich schon erwähnt, dass Städtetrips kein Zuckerschlecken in Sachen Erholung sind? Ich glaub schon…

Graffiti defend this city i love this city Sarajevo
Sarajevo Siege Belagerung Lageplan Karte
Lageplan mit Frontlinien während der Belagerung von Sarajevo

Erneut ging es am nächsten Morgen sehr zeitig raus. Auf dem Plan stand heute eine „Belagerungstour“. Jaja.. schwarzer Tourismus lässt grüßen. Aber ich will wirklich was lernen über diesen Krieg und daher kann es einfach nicht schaden, mit jemanden der beteiligt war einen Trip rund um die Stadt zu unternehmen. Mit vier weiteren Studenten ging es im 9er Bus kreuz und quer durch Sarajevo. Für nur 15€ zeigt der Tourguide, welcher selber auf bosnischer Seite in Sarajevo kämpfte und auch verletzt wurde, etwa 4 Stunden viele Schauplätze und hat dank seiner eigenen Erfahrungen unendlich Gesprächsstoff. Zu Beginn der Tour fragte ich ihm gleich, ob er mich auf der Rückfahrt irgendwo in der Nähe des Stadions von FK Sarajevo herauslassen könnte und passenderweise wollte er da auch hin. Perfekt geplant würde ich sagen. (siehe Bericht FK Sarajevo vs. FK Radnik Bijeljina) Im Anschluss an das Spiel ging es per Fuß zurück zur Altstadt. In unmittelbarer Nähe des Asim-Ferhatović-Hase Stadions befindet sich die Zetra Halle. Ebenfalls zur Olympiade 1984 genutzt, erlangte sie Anfang der 90er Jahre erneut Bekanntheit. Am 28. Juli 1991 fand hier ein riesiges Friedenskonzert statt. 30.000 Menschen in und etwa 50.000 vor der Halle waren an diesem Tag fest der Meinung, dass hier kein Krieg ausbrechen kann, bzw. hofften es. Dass es nur ein dreiviertel Jahr dauern wird, bis Sarajevo belagert wird konnte sich vermutlich niemand vorstellen. Abgesehen von ehemaligen olympischen Sportstätten ist der Weg entlang der Patriotske Lige Richtung Zentrum gesäumt von Dutzenden größeren und kleineren Friedhöfen und Parks. Ziel des heutigen Tages waren noch zwei Museen über den Krieg. Es gibt auch ein großes Stadtmuseum, aber das hat leider aus Geldnot nur sehr spartanisch geöffnet. Erster Anlaufpunkt war das „Museum of Crimes against Humanity and Genocide 92-95” in der Ferhadija. Museum ist vielleicht etwas zu viel gesagt, denn es handelt sich hier um eine umgebaute Wohnung. Es ist ein Projekt von Studenten, welche den Ist-Zustand des Vergessenes und verdrängen nicht mehr hinnehmen wollten. Der Dayton-„Friedens“-Vertrag verbietet eigentlich solche Museen, daher kann sowas nur über private Projekte organisiert werden. Ich konnte dort sehr lange und ausführliche Gespräche mit zwei Verantwortlichen führen und kann das Projekt nur empfehlen. Falls ihr in Sarajevo seid, unterstutzt es bitte. Das zweite Museum / Projekt ist die „Gallery 11/07/95“ und beschäftigt sich mit den Massakern in und um Srebrenica. Das hier gezeigte geht schon sehr ins Mark. Die Eindrücke des Tages wurden anschließend mit ein paar Pivo sacken gelassen. Am nächsten Morgen ging es dann per Bus wieder Richtung Osijek. Eine „lustige“ Tour bis Slavonski Brod, musste ich doch bei jedem Bremsmanöver das Gleichgewicht halten, da meine Sitzbank nicht verschraubt war und ich immer mal nach vorn klappte. Ein paar Klischees müssen die Jungs und Mädels da unten halt doch immer erfüllen.


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